Elektronische Liebesgeschichte
„Ich bin völlig verschossen", hörte ich Ulli, einen Freund von meinem Freund und nächsten Nachbar Alexander, murmeln, als ich ihn ahnungslos „wie geht's?" fragte. Dann wiederholte er die vier Wörter mit jenem abwesenden Blick, der zum Murmeln passt und so doppelt anzeigt, dass der Redende, Vorbeiguckende mit Gedanken woanders ist. Und Ulli kam mir auch so vor: Verschossen. Irgendwo als Kugel in der Gegend herumeiernd. Seelischen Halt nur in inneren Bildern findet. Bilder von „ihr". „Verknallt" ist ja ähnlich. Beides hat mit dem Schuss vom Flitzebogen des kleinen Amors zu tun. Ein kleiner Piks, der die Welt verändert. „Elektronische Liebesgeschichte," murmelte Ulli hinterher, verzögert, träumerisch und sinnlos. Ich dachte kurz an den Kontakt-, und Heiratsmarkt im Internet. Aber Ulli war doch gegen jeden „Heiratsmarkt“ und erst recht den im Internet. Obwohl Ulli promovierter Informatiker ist. Oder deswegen. Was war passiert?
Ulrich hat sie getroffen. Die Traumfrau seiner einsamen Nächte. Genau die, unverkennbar ,,die“. Die mit der Stimme von seinem Navigationsgerät im Auto. Es hatte ihn wirklich wie einen Schuss getroffen, als er zu einer ambulanten Nachbehandlung in die Klinik ging und an der Rezeption diese kleine, schmale, fragile Frau-hörte. Er sah sie nicht zuerst - wie wir gewöhnliche Männer, wenn wir verknallt oder verschossen werden. Er hörte die Stimme vom Jenseits. Jenseits des Tresens der Klinik-Rezeption. Dieselbe Dame, die ihm in langen, einsamen Autofahrt-Nächten sagt, wo es lang geht. Die mit rauchiger und trotzdem klarer Stimme über Global Position System (GPS) durch die Radiolautsprecher ansagte: ,,In 800 Metern rechts ab- und bei der T-Kreuzung links...". Sie sagte alle diese profanen Informationen mit einem Timbre, das Eva bei der Verführung zum Äpfel essen als Vorspiel im Paradies genutzt haben musste. Eine wahrlich gottgegebene Stimme. Natürlich wusste Ulrich als Fachmann, dass die Stimmen auf seinem Navigator im Auto akustisch-synthetische Computerstimmen waren. Vorbei die Zeiten monotoner, künstlicher, verzerrter Computerstimmen bei Telefonauskunft. Heute mischen Fachleute am Computer solange, bis die Stimme stimmt. Für (fast) alle. Ulrich fuhr oft und lange und nachts und allein. Diese Stimme war für ihn die Konstruktion einer wundersamen Beifahrerin: Engelsgeduldig, lieb und warmherzig und eben immer verführend in die eine oder andere Richtung. Selbst wenn sich Ulrich verfuhr, weil er eine Sekunde der Stimme untreu geworden war (Rauchen, Butterbrot, Handy-Klingeln oder bei Rot eine lebendige Frau im Auto neben sich)- die GPS-Stimme korrigierte die Streckenführung ohne eine einzige Ungeduld in ihrer ewigen Lieblichkeit. Wie glückliche Mütter bei glücklichen Babys. Jetzt hat er sie getroffen, diese Stimme. In Natur, als Realität. Und in die Frau, die diese Stimme hervorbrachte, hat er sich verschossen. Die Psyche besiegt eben letztlich jede Informatik bzw. jeden Informatiker. Glückauf, Ulli! Aber vergiss nicht: Diese Frau hinter dem Tresen ist nicht ununterbrochen geduldig und lieb wie die globale Stimme des Urweibchens im Auto-GPS. Sie ist eine lebendige Frau. Keine elektronische Liebe!
3. Juni 2003